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- Taschenbuch: 114 Seiten
Verlag: Pro Business
1.Auflage (14. Oktober 2008)
Preis: 9,90€
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„Hast du das schon gelesen?“
Er ließ die Zeitung nicht sinken. Sie wußte, dass sie jetzt Nein sagen musste, bevor er ihr irgendeine Überschrift vorlas.
Natürlich hatte sie die Zeitung noch nicht gelesen. Während er die Brötchen holen ging, hatte sie das Frühstück vorbereitet. Er brachte die Zeitung wie gewöhnlich mit den Brötchen und frühstückte während er las.
„Nein. Was gibt es Neues?“
Sie schenkte ihm Kaffee nach und köpfte mit einem Schwung ihres Messers das Ei. Sie machte es lieber so. Ihr Mann klopfte das Ei nur sachte an und pellte dann den oberen Teil vorsichtig ab, streute Salz darauf und nahm den oberen Teil des Eis dann mit dem Löffel ab. Er aß es immer am Schluss.
„In Straßburg hat ein vierundsiebzigjähriger Mann zugegeben, vor dreisig Jahren seine Nichte erst vergewaltigt und dann getötet zu haben. Mit einem Küchenmesser. Dann hat er sie im Garten vergraben. Stell dir vor, seine Frau hat nie was davon gemerkt. Das Mädchen galt als vermisst. Stell dir das vor: und er hat dreisig Jahre einfach mit seiner Frau in dem Haus gelebt. Vielleicht haben sie sogar im Garten gefrühstückt. Und er hat mit dem selben Messer sein Ei geköpft.“
Er las immer zu erst das Vermischte.
„Vor dreisig Jahren haben wir uns noch gar nicht gekannt“, sagte sie und aß ihr Ei.
Er reagierte nicht. Sie waren jetzt achtundzwanzig Jahre verheiratet und das kleine Häuschen am Stadtrand hatten sie sich nur leisten können, weil er in den Vorruhestand ging und eine hohe Abfindung kassiert hatte. Die Küche war schlicht und praktisch eingerichtet. Alle Haushaltsgeräte waren unter einer großen Arbeitsplatte verstaut. Die Hängeschränke darüber boten viel Platz und die Frau war es gewohnt, schon beim Kochen alles sofort wieder sauber zu machen und in die weißen Schränke verschwinden zu lassen. Auf der Arbeitsplatte stand ein Basilikum noch mit dem Plastikhäutchen um den kleinen Topf. Gegenüber stand ein altes Holzbuffett. Alles Besteck, Servietten, Trockentücher und die Gläser verschwanden in ihm. Nach Süden zu gab es ein Fenster. Der Küchentisch reichte für zwei zum frühstücken und wenn sie Gäste hatten, gingen sie ins Esszimmer.
Er tastete hinter der Zeitung hervor nach dem Kaffee, trank einen Schluck und stellte die Kaffeetasse irgendwo auf den Tisch.
Sie sah sein Gesicht nicht. Sie sah nicht was er anhatte.
„Sag, ist das nicht unglaublich – mein Gott diese Gleichgültigkeit. Dreisig Jahre! Stell dir das vor.“ Er schüttelte den Kopf hinter der Zeitung.
„Ja, schlimm.“
Er las ihr jeden Morgen diese Meldungen vor. Erschossene, Überfahrene, Geschwängerte, Vermisste bevölkerten ihren Morgen und verwickelten sich in ihrer Vorstellung in Unfälle, Katastrophen, Massaker.
„Wie konnte er das tun?“, fragte sie und ihre Stimme klang nüchtern.
Ohne die Zeitung wegzulegen, begann er seinen gewohnten Vortrag über die Schlechtigkeit der Menschen, die Verrohung der Gesellschaft durch die Medien, die Ignoranz und Sittenlosigkeit der Jugend, die allgemeine Morallosigkeit der heutigen Gesellschaft und auch den Schluss kannte sie schon.
„Aber weißt du“, holte er aus, als würde er es zum ersten mal sagen, „warum sollte es uns besser ergehen als allen großen Reichen. Sie sind alle untergegangen. Alle. Die Babylonier, Assyrer, Kartharger, die Griechen, die Römer. Und warum? Wegen dem Verfall der Sitten. Sie waren irgendwann degeneriert. Und wir, wir sind auf dem besten Weg, diesen Kreislauf der Geschichte zu wiederholen. Es ist unsere eigene Dekadenz, die uns umbringen wird.“
Sie verspürte einen plötzlichen Impuls, sein Ei zu köpfen.
„Max, reg dich nicht auf. Du wirst es nicht ändern.“
Er ließ die Zeitung sinken. „Nein, aber man muss es versuchen, etwas muss sich ändern.“
Er hob die Zeitung wieder und in ihr zog sich etwas zusammen. Sie musste aufstehen.
„Max, und wir – sind wir nicht auch degeneriert?“
„Was?“
„Ich meine, unser Leben, unsere Ehe, ist das irgendwie alles nicht...“
„Was?“ Seine Stimme klang scharf.
Sie wußte nicht weiter. Sie fuhr sich durchs Haar und schüttelte den Kopf ganz kurz, wie um etwas zu verscheuchen, das ihr lästig war.
„Was? Na was?“ Er sah jetzt hinter der Zeitung hervor.
Etwas in ihr bog sich aus den Lenden heraus, wölbte sich in ihr und drückte mit aller Macht in ihren Brustkorb. Sie meinte, nicht mehr stehen zu können.
„Was redest du nur für einen Schwachsinn“, sagte er und hatte sich schon wieder hinter die Zeitung verzogen. „Wir haben alles. Wir leben ein gutes Leben. Was, bitte sollten wir ändern? Ich für meinen Teil bin ganz zufrieden und du solltest es auch sein, weiß Gott, du solltest es wirklich sein.“
Sie nahm ihren Teller und trug ihn zur Spüle. Sie zitterte.
„Max“, mehr brachte sie nicht heraus. Diese Kraft stieg ihr in den Hals. Sie hielt sich an der Spüle fest.
„Oder hör dir das an!“ Max lachte laut. „Dreiundachzigjähriger lässt sich nach vierundfünfzig Jahren Ehe scheiden.“
Max war sichtlich amüsiert. Die Zeitung wackelte.
„Er sagt, er hält es keinen Tag mehr aus, der alte Sack.“
Er lachte. „Hast du gehört, Schatz?“
Sie atmete jetzt heftig. Sie hörte ihr Blut im Kopf rauschen und ihr „Ja“ klang ihr selbst wie von fern und nicht zu ihr gehörend.
Der Morgen war noch jung, es war Sommer, ein schöner Julitag wartete draußen und seine Wärme klopfte sanft an die Fenster. Es roch nach Kaffee, nach frischen Brötchen, Marmelade und ein bisschen Käse. Alles war schön und aufgeräumt. Das Haus lag still und friedlich. Von fern hörte man Kinder in der ersten Schulpause auf dem Hof spielen. Der Druck am Hals ließ ihre Adern anschwellen. Sie nahm alles ganz genau wahr. Der braune Rest Kaffee in seiner Tasse, die speckigen Buchstaben der Zeitung, seine Finger, die die Zeitung hielten, das Licht, das durchs Fenster schräg auf das Basilikum schien und es in hellerem Grün erstrahlen ließ, die Reste ihres geköpften Eis, die Butter am Messer. Sie spürte eine Klarheit, die sie nie für möglich gehalten hätte. Es zerriss ihr fast den Hals.
Sie nahm das Frühstücksmesser und trat langsam zu ihm....
Die Figuren in Andreas Herrmanns Kurzgeschichten sind Erwachende. Sie erwachen mitten in der Routiniertheit ihres Alltags, wundern sich übers eigene Funktionieren angesichts der lähmenden Normen ihres Daseins. Der Ehemann, der Nachbar, der Geliebte - sie "gleiten sich selbst verlierend aus der Hand" bis zum Moment der Erkenntnis, die sie würgt und um Luft ringen lässt wie gestrandete Fische. Angeebbt im Ungewissen, im Ungefähren - in der Unsicherheit des Neuen, weil das Alte nicht mehr trägt. Mit seinem unbestechlichen Blick fürs Wesentliche und für Menschen mit Nettogewicht malt Andreas Herrmann die Szenen aus und beleuchtet sie bis in die Ritzen: Lesen!
Barbara D.
Die Lesung war wirklich schön! Wer die Kurzgeschichten von Andreas Herrmann live vom Autor gelesen erleben darf hat den doppelten Genuss, denn sie werden von ihm sehr einfühlsam vorgetragen. Mit eindringlicher Stimme und einem lässigen Nachschlag á la Marlowe atmen alle von Herrmanns Erzählungen auch ein bisschen Raymond-Chandler-Atmosphäre. Der Autor als empathischer Detektiv der menschlichen Abgründe, die leicht melancholische Grundstimmung, die satirischen Skizzen und "Szenen einer Ehe " in seinen Erzählungen. Dieses leise Scheitern, diese paradoxen sozialen Determinationen, denen man ausgesetzt ist, das beschreibt Andreas Herrmann alles sehr treffend und bringt auch unsere allgegenwärtige Sprachlosigkeit im Miteinander auf den Punkt. Auf jeden Fall berühren seine Geschichten und bringen einen ins Grübeln. Viele autobiographisch wirkende Sequenzen, viele gleichnishafte Szenerien aber auch viele subtile erotische Anklänge gibt es in Herrmanns Geschichten und die sind auch sehr bewegend: angenehm, manchmal auch unangenehm, manchmal sehr intim-auf jeden Fall authentisch und sehr schön ausgedacht. Die geistreichen Kurzgeschichten, die oft auch den Charakter von Fabeln haben, Fabeln über Mann und Frau mit menschlichen Eigenschaften, fallen angenehm auf im Wust der kommerziellen, kalkulierten Massenproduktion. Da schreibt einer, der in seinen Geschichten Philosophie, Psychologie und Spiritualität als Errungenschaften des Homo sociologicus in bewegenden Menschengeschichten Gestalt werden lässt.
Johanna V.
Es sind Geschichten voller leidenschaftlicher Suche nach Leben - manchmal humorvoll, manchmal zynisch, oft verzweifelt. Es geht um Menschen, die sich nicht genügen können. Menschen, die am Ersatz für das wahre Leben scheitern, denen Nikotin, Alkohol, Sex und Rausch die vage Hoffnung auf Erfüllung versprechen. Liebe? Gibt es die? Die Sehnsucht nach Liebe wird in jeder dieser Geschichten schmerzlich spürbar. Und manchmal, unverhofft, mag auch eine Facette dieses unergründlichen Gefühls durchschimmern...je nach LeserIn. Es sind dichte Kurzgeschichten, die man alle schnell nacheinander liest, in dem Wunsch, das Scheitern der Gefühle in der nächsten etwas leichter zu ertragen.
Brigitta B.
Zufällig auf dieses Buch gestoßen. Die Rezensionen machten neugierig. Und tatsächlich: da schreibt jemand über das Leben, die Liebe, die Sehnsucht bis hin zur Melancholie. Nostalgisch und immer etwas eigen-artige Elemente bestimmen Sprache und Inhalte der Kurzgeschichten, zum Glück immer auch humorvoll. Der Autor beobachtet oder teilt Lebenswelten. Andere und wohl auch seine. Beeindruckend, nachdenklich, und immer herausfordernd.
Klaus S.
Berührende und fesselnde Momentaufnahmen...
Eigentlich wollte ich an einem kalten Wintertag ein wenig in "Sandfisch" schmökern, doch ich konnte die Kurzgeschichten nicht mehr aus der Hand legen: mit einem klaren Blick auf die so menschlichen Eigenarten, das "ich"-bezogen sein und das Unvermögen, das Gegenüber wirklich zu erkennen, erzählt Andreas Herrmann eindringlich über die vielfältigen Variationen des "Nicht-Erkennens" des Gegenübers und der aneinander vorbeigehenden Kommunikation. Die einzelnen Charaktere haben mich tief berührt. Am liebsten würde man selbst eingreifen und manche "schütteln" und ihnen sagen: "Habe doch den Mut und sieh hin" oder aber "fang einfach an und trau Dich, lebendig zu sein" bis zu "lebe und handle, denn es gibt nichts zu verlieren, außer gar nicht zu beginnen". Diese wertvollen Geschichten machen aufmerksam und weckten in mir den Wunsch, noch mehr auf das zu achten, was mein Gegenüber bewegt. Unbedingt empfehlenswert!
Petra K.
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